Statt muffiges Pflegeheim, gestresstes
Personal und sedierende Psychopharmaka setzt Martin Woodtli in Thailand auf eine neue Form der Dementen-Betreuung. Hier werden Alzheimerkranke nicht als Patienten sondern Gäste betrachtet. Gäste,
die täglich 24 Stunden lang liebevoll und herzlich umsorgt werden.
Laut Alzheimer-Report 2010 leiden weltweit 35,6 Millionen Menschen an der Alzheimer-Krankheit, in Deutschland etwa 1,2 Millionen. Schätzungen gehen davon aus, dass 2030 schon 65,7 Millionen betroffen sein werden. Diese Zahlen lassen aufhorchen und sie verdeutlichen die Schwierigkeiten, mit denen wir es zukünftig zu tun haben werden: immer mehr alte, verwirrte, kranke Menschen, die dringend eine sehr spezielle Pflege benötigen.
Mit diesem Hintergrund ist der Ansatz des Schweizer Sozialunternehmers Martin Woodtli umso interessanter. Es war seine eigene Lebensgeschichte, die den 51-Jährigen veranlasste, einen neuen Weg in der Dementen-Betreuung zu suchen. Denn als seine eigene Mutter Margrit an Alzheimer erkrankte, nahm sich sein Vater 2002 aus Verzweiflung darüber das Leben. Und so war der Sohn plötzlich alleine mit der Frage konfrontiert: Wie finde ich eine gute, würdevolle, aber auch bezahlbare Pflege für meine Mutter? Nachdem der Schweizer seine Mutter 10 Monate alleine im elterlichen Haus versorgt hatte, wusste er, dass es so nicht weitergehen konnte. Da erinnerte sich Martin Woodtli an seine frühere Zeit in Thailand, wo er vier Jahre lange für „Ärzte ohne Grenzen“ ein Aids Projekt durchführte. „Und mir fiel ein, dass ich damals beobachtet hatte, wie herzlich und respektvoll die Thais mit alten Leuten umgehen,“ erzählt der 51-jährige Sozialarbeiter und Gestalttherapeut. Alzheimer wird dort nicht als Krankheit gesehen sondern einfach als Altersschwäche.
Nach langem Abwägen fasste er den Entschluss, das Experiment zu wagen und mit seiner Mutter Ende 2002 nach Chiang Mai im Norden Thailands überzusiedeln. Wobei er offen ließ, ob daraus ein einmonatiger Urlaub oder eine längere Zeit werden sollte. Von nun an konnte Woodtli seiner Mutter eine 24-Stunden-Betreuung bieten. In drei Schichten kümmerten sich drei Thailänderinnen um die Schweizerin. Und anders als vielleicht in einem normalen Pflegeheim brauchte die agile Frau nicht mit Beruhigungsmitteln ruhig gestellt werden, sondern konnte ihrem extremen Bewegungsdrang nachgehen. Mal zum Tempel wandern, mal über den Markt spazieren, mal mit ihrer Betreuerin Federball spielen.
Dennoch fragte sich ihr Sohn, ob sie ihre Heimat, Bekannten, Angehörigen vermissen würde, das Essen oder Klima? Aber: „Ich glaubte zu erkennen, dass bei meiner Mutter alles vollkommen anders ablief, weil sie aufgrund ihrer Krankheit die Tragweite ihres Wegzuges, oder sagen wir, ihrer Reise, nicht mehr abschätzen konnte. Wahrscheinlich war sie einfach bereit, einen Ausflug zu machen.“
Die Schweizerin vermisste in Thailand anscheinend rein gar nichts. Sie hatte ihre Heimat in Gedanken einfach mitgenommen und erzählte ihren Pflegerinnen begeistert von dem kleinen Dorf, in dem sie als kleines Mädchen aufgewachsen war. Sie hatte sogar das Gefühl, dort zu sein.
Auch sprachliche Hürden schien es für Woodtlis Mutter und die thailändischen Betreuerinnen nicht zu geben. „Ich vermute, dass es für viele Demenzkranke leichter ist, sich nonverbal zu verständigen. Denn der Verlust des Sprachvermögens löst bei vielen Hemmungen aus und so verstummen sie lieber, als sich zu blamieren oder verbessert zu werden.“ In Thailand kamen die Betreuerinnen gar nicht erst in die Versuchung zu korrigieren. Sie hörten stattdessen geduldig zu, liebkosten die Kranke oder gaben ihr angenehme Massagen.
Es waren diese positiven Erfahrungen mit seiner Mutter und seine persönliche Erlebnisse, die Martin Woodtli motivierten, diese neue Betreuungsform auch anderen Menschen zugänglich zu machen. Und aus seiner Vision entstand das Projekt „Baan Kamlangchay“. Baan – was so viel heißt wie Haus. Und Kamlangchay – was Begleitung des Herzens bedeutet.
In Faham einem kleinen Vorort von Chiang Mai baute Woodtli nach und nach mehrere Unterkünfte für Alzheimer-Kranke und unterbreitete seinen „Gästen“ (dieses Wort mag der Schweizer lieber als den Begriff Patienten) das Angebot kurz-, mittel- oder langfristiger Aufenthalte. Entweder alleine oder in Begleitung der Angehörigen.
Ende 2002 zogen in Baan Kamlangchay die ersten Gäste ein. Eine 82-jährige an Alzheimer erkrankte Frau, die zusammen mit ihrer Tochter einen dreimonatigen Urlaub verbrachte. Und ein 70-jähriger Mann, dessen Demenz-Erkrankung eine 24-Stunden-Betreuung erforderte. In der Schweiz hatte er sechs Monate in einem Pflegeheim verbracht, wo das Personal aber kaum Zeit für ihn hatte. Als ehemaliger Swissair-Angestellter war es immer sein Herzenswunsch gewesen, sich einmal in Thailand niederzulassen. Ein Wunsch, der in Erfüllung ging.
„Überhaupt ist es sicher von Vorteil, wenn diejenigen, die in Baan Kamlangchay leben sollen, reiseerfahren sind“, glaubt Martin Woodtli, der diese und andere Punkte zunächst in einem Fragebogen klärt. So möchte er von den Angehörigen auch wissen, ob der Alzheimerkranke die tropische Wärme aushält oder ob er nicht womöglich etwas gegen Asien und die Küche hat. Erfahren möchte der Sozialunternehmer auch, warum die Angehörigen gerade sein Projekt ausgewählt haben. „Wenn jemand das nur tut, um Geld zu sparen, lehne ich ab“, so Martin Woodtli. Obwohl er natürlich weiß, dass sein Betreuungsangebot nur etwa ein Drittel des üblichen Pflegesatzes kostet und daher auch aus diesem Punkt reizvoll ist. Aber wichtig ist ihm vor allem die liebevolle und intensive Betreuung, die er in einer wunderschönen Umgebung bieten kann. Und dass diese Umgebung scheinbar wirklich heilsam ist, erkannte er wieder, als die ersten Gäste einzogen und wie seine Mutter die Wärme genossen, die herzliche Betreuung und die exotischen Reize. Vor allem die liebevollen Berührungen, das Handhalten, Streicheln und die wohltuenden Massagen wirkten bei den Demenzkranken wie Balsam und führten dazu, dass ihre auftretende Aggressionen und Verstimmungen zumindest gelindert werden konnten.
Den thailändischen Betreuerinnen gelingt es auf ganz besondere Weise, die Pflege mit viel körperlich nahem Umgang zu verbinden und so können sie bei den Demenzkranken auch das Bedürfnis nach Wärme und Körperkontakt stillen. Anders als in einem typischen Pflegeheim, in dem den Pflegerinnen nicht sehr viel mehr Zeit bleibt, als schnell zu waschen, zu wickeln und zu füttern.
Die thailändische Variante der Betreuung ist also gänzlich neu und irgendwie auch beruhigend. Nur dass dieser scheinbar ideale Ort für Demenzerkrankte so fern ist. Was den meisten Angehörigen auch die größten Probleme bereitet. Einerseits, weil sie fürchten, die Umwelt könnte ihnen vorwerfen, ihre Kranken nach Thailand abzuschieben. Andererseits, weil sie ihre Liebsten eventuell doch entwurzeln. Und weil das rund 13000 Kilometer entfernte Land regelmäßige Besuche erschwert.
Wobei Martin Woodtli auch an diesem Punkt die Bedenken zerstreuen möchte: „Viele der Angehörigen kommen stattdessen für mehrere Wochen hierher und erleben eine sehr intensive Zweisamkeit, die sie sonst vielleicht gar nicht haben würden, wenn sie nur alle zwei Wochen für eine Stunde ins Pflegeheim kommen.“
Sein neuer Betreuungsansatz in Thailand und die vielen Presse-Berichte über ihn und seine Mutter zogen Bahnen. Immer mehr Angehörige interessierten sich für Baan Kamlangchay und waren bereit, für die liebevolle Rundumbetreuung 2500 Euro im Monat zu zahlen.
Heute – nach acht Jahren Bestehen – werden in Martin Woodtlis Projekt zehn Langzeit-Gäste und zwei Ferien-Gäste betreut. „Zwölf Gäste – das ist für uns die optimale Auslastung, denn von einem Heimgedanken bin ich völlig abgekommen, weil er auch unserem familiären Charakter widersprechen würde“, sagt Martin Woodtli und ist froh, dass er mehrere Angebote interessierter Investoren abgelehnt hat, ein Großressort für Alzheimerkranke aufzubauen.
Stattdessen hält er die dezentrale Unterbringung für optimal. Dezentral –weil es ein Haupthaus gibt, in dem er und seine thailändische Frau arbeiten und wohnen, in dem morgens aber auch für alle Gäste ein gemeinsames Frühstück angeboten wird. Alle anderen sechs Häuser sind im Dorf und werden jeweils von zwei Gäste und ihren jeweiligen Betreuern bewohnt, haben aber auch Platz für die Angehörigen.
„Auf diese Weise sind die alten Menschen im Dorf verteilt, voll integriert, überstrapazieren die Dorfgemeinschaft aber auch nicht“, sagt Martin Woodtli. „Und der familiäre Charakter von Baan Kamlangchay entspricht den Bedürfnissen der thailändischen Angestellten, denen der persönliche, familiäre Umgang sehr wichtig ist“, sagt der 51-jährige Sozialunternehmer, der auch an das Wohlergehen der Betreuer denkt. Insgesamt kümmern sich heute 36 Betreuerinnen um die Alzheimerkranken. Zusammen mit dem logistischen Personal beläuft sich die Zahl der Angestellten auf etwa 45. Diese verdienen je nach Erfahrung und Entwickung zwischen 8000 und 12000 Thailändische Baht – das entspricht etwa 250 bis 400 Euro.
Woodtli selbst fungiert über seine Position als Leiter hinaus als Supervisor für die Betreuer, wenn es um Fallbesprechungen geht. „Ich bin eine Art Brücke zwischen den Kulturen.“ Außerdem organisiert der Schweizer regelmäßig Fortbildungen für seine Angestellten. Zahlen muss er dafür meistens nicht, denn viele Experten und Fachleute aus Europa sind sehr interessiert an dem Thailand-Projekt und bieten ihre Dienste im Austausch kostenlos an.
Ein Angebot, das Woodtli gerne annimmt. Denn er bietet seinen neuen Mitarbeitern heute nicht nur Einführungskurse an, sondern organisiert für alle Betreuerinnen auch sporadisch stattfindende, themenspezifische Weiterbildungen, in die er die externen Spezialisten einbezieht. „So ist eine ganz neue Ausbildung zur interkulturellen Betreuerin von Demenzkranken entstanden“, erzählt Martin Woodtli.
Klar wird auch in diesem Punkt, dass das Qualitätsmanagement in Baan Kamlangchai sehr ernst genommen wird. Daher sind auch kontinuierliche Wochenrapports selbstverständlich, in denen festgehalten wird, wie es den Gästen geht, was sie essen und trinken und ob sie Medikamente benötigen. Wobei beachtlich ist, dass keiner der Gäste sedierende Psychopharmaka benötigt. Martin Woodtli erklärt sich das damit, dass die Alzheimerkranken hier so viel Abwechslung erleben. Zum Beispiel beim Ausflug zur Elefantenfarm oder zum religiösen Fest im Dorf. „Dieses bunte Leben führt dazu, dass kaum jemand bei uns in sich selbst versinkt, so wie es in Pflegeheimen oft passiert, wo es kaum noch Außenreize gibt“, meint der Sozialunternehmer. Und er ist froh darüber, dass er in den acht Jahren, die es Baan Kamlangchay nun gibt, erst drei Todesfälle beklagen musste – darunter seine Mutter Margrit, die 2006 friedlich verstarb.
Das Projekt läuft also in seiner überschaubaren Größe gut. So gut, dass Martin Woodtli hofft, in fünf Jahren seine Kosten wieder einzuspielen. Der Gewinn lässt es außerdem zu, dass er in diesem Jahr einen kleinen Park und ein Schwimmbad für die Gäste anlegen kann.
Ob sein Modell auch auf andere Länder kopierbar ist, weiß Woodtli nicht. „Da bin ich skeptisch, weil Baan Kamlangchay aus meiner ganz speziellen Geschichte heraus entstanden ist. Aber ich hoffe sehr, dass es noch andere innovative Ideen für die Betreuung von Alzheimer-Kranken geben wird. Wünschenswert wäre es.“ Und der Schweizer wäre jederzeit gerne dazu bereit, kleinere Unternehmer in dieser Richtung zu beraten.